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8th April 2012

Konflikttransformation – Syrien

WAS SOLLEN WIR NUR ANGESICHTS DER EREIGNISSE IN SYRIEN UNTERNEHMEN?

von Johan Galtung

Alfaz, Spanien, 18. März 2012

Wir alle sind verzweifelt, wenn wir uns das furchtbare Töten, das Leid der Hinterbliebenen und des gesamten Volkes ansehen. Aber was sollen wir tun?

Könnte es vielleicht sein, dass die UN und Regierungen im Allgemeinen die Tendenz haben, denselben Fehler noch einmal zu machen: Sie fangen am falschen Ende an? Gewöhnlich wenden sie die folgende Formel an:

Erstens: Die Nummer 1 als Hauptverantwortlichen loswerden, indem man Sanktionen einsetzt,

zweitens: Waffenstillstand, entweder durch Appell an die Parteien oder durch Intervention,

drittens: Verhandlungen zwischen allen legitimen Parteien,

schließlich viertens: eine politische Lösung als Kompromiss.

Das scheint logisch zu sein. Es gibt einen Hauptverantwortlichen, den Präsidenten Assad, der das Töten befiehlt. Er muss mit allen möglichen Mitteln aus dem Amt vertrieben werden. Dann der Waffenstillstand, Verhandlungen und schließlich taucht eine Lösung auf. Zwar ist das logisch, aber nicht sehr klug.

Zweifellos spielt die Nummer 1 eine Rolle. Aber da der Mann so wichtig ist, kann es sein, dass er auch einige Schlüssel für Lösungen in der Hand hält. Später kann er ja abtreten, aber zuerst sollte man ihn anhören.
Warum sollten die Parteien den Vorschlag zu einem Waffenstillstand annehmen, wenn keine akzeptable Lösung in Sicht ist? Wäre das nicht Kapitulation? Würde das nicht dem Gegner Zeit dafür geben, sich neu aufzustellen und sich wieder zu bewaffnen? Zwar wäre ein Waffenstillstand wünschenswert, aber er ist für eine Lösung weder notwendig noch ausreichend.
Wessen Pläne werden durch Verhandlungen begünstigt, nachdem die Hauptpartei ausgeschaltet worden ist?

Eine politische Lösung? Ja, aber unter diesen drei Bedingungen steht  das Ergebnis schon im Voraus fest.

Überlegen wir uns die umgekehrte Reihenfolge. Fangen wir mit der Lösung an, dann folgen Verhandlungen über die Einzelheiten. Wenn die Lösung erfolgreich oder gar unwiderstehlich  ist, dann kann eine Waffenruhe folgen. Und dann tritt die Nummer 1 vielleicht ab oder wird abgesetzt, weil sie ihren Teil der Aufgabe erfüllt hat.
Aber wie kann irgendjemand eine Lösung finden, wenn das Töten immer weitergeht? Die Motivation ist hoch. Nach einem Waffenstillstand nimmt die Motivation ab, wie wir in Sri Lanka gesehen haben. Der Tourismus kehrte zurück, die Suche nach Lösungen jedoch wurde eingestellt und der Waffenstillstand wurde von beiden Seiten dazu genutzt, sich neu aufzustellen.
Wie kann es eine Lösung geben, wenn die Hauptakteure miteinander kämpfen? Sie müssen nicht selbst in die Verhandlungen gehen, sie können Stellvertreter schicken. Außerdem ist das Land voller lösungsorientierter – und nicht nur siegesorientierter – Menschen, die über die Probleme und nicht nur darüber nachgedacht haben, wer schlecht und wer gut ist.
Wir sollten nach mehreren Lösungen und nicht nur nach einer einzigen Lösung suchen! 1000 Dialoge sollen blühen, in jedem Stadtteil, jedem Dorf wenigstens einer! Die UN sollten Prozessbegleiter schicken, die sich in Mediation und nicht mit Gewehren und Feldstechern auskennen.
Damit das geschieht, sollten die Parteien außerhalb und innerhalb Syriens miteinander sprechen. Sie sollten ihre Ziele nennen und das Syrien skizzieren, das sie haben möchten. Im Folgenden werden Annahmen über die Ziele der äußeren Parteien angestellt:

  • Israel möchte, dass Syrien in kleinere Teile geteilt wird, sich vom Iran löst, und es möchte den Status quo für die Golanhöhen und eine neue Landkarte für den Nahen Osten,
  • die USA möchten, was Israel möchte und Kontrolle über Öl, Gas und Pipelines,
  • Britannien möchte, was die USA möchten,
  • Frankreich ist gemeinsam mit Britannien für die Kolonisierung in der Region nach dem Untergang des Osmanischen Reiches verantwortlich und will seine Freundschaft mit Syrien stärken,
  • Russland möchte eine Marinebasis im Mittelmeer und einen „Verbündeten”,
  • China möchte, was Russland möchte,
  • die EU möchte, was Israel-USA und Frankreich möchten,
  • Iran möchte, dass die Schia die Macht behält,
  • Irak mit seiner Schia-Mehrheit möchte, dass die Schia die Macht behält,
  • Libanon möchte gerne wissen, was es möchte,
  • Saudi-Arabien möchte, dass die Sunniten an die Macht kommen,
  • Ägypten möchte als Konfliktmanager auftreten,
  • Katar möchte dasselbe wie Saudi-Arabien und Ägypten,
  • die Golfstaaten möchten, was die USA und Britannien möchten,
  • die Arabische Liga möchte kein zweites  Libyen und versucht sich in Menschenrechten,
  • die Türkei möchte sich gegenüber Israel und USA und den Nachfolgern der Kolonisatoren Frankreich, Britannien und Italien, die das Osmanische Reich aufteilten, Geltung verschaffen. Sie möchte auch eine Pufferzone in Syrien,
  • die UN möchten als Konfliktmanager auftreten.

Über alldem zieht eine dunkle Wolke herauf: Syrien liegt zwischen Israel-USA-NATO einerseits und der Shanghai Cooperation Organization (Russland, China und Zentralasien, Indien und Iran als Beobachter) andererseits und beide dehnen sich aus.

Als Nächstes nennen wir die Ziele einiger innerer Parteien:

  • Die Alawitens (15%) wollen die Macht behalten,
  • die Schiiten wollen dasselbe,
  • die Sunniten wollen eine Mehrheitsregierung, d. h. sie wollen regieren, sie wollen Demokratie,
  • Juden, Christen und Minderheiten wollen Sicherheit und fürchten die Regierung der Sunniten,
  • die Kurden wollen hochrangige Autonomie und eine gewisse Gemeinschaft mit anderen Kurden.

Alle diese Annahmen können in Frage gestellt werden, aber wir wollen ein Gedankenexperiment durchführen und annehmen, dass dieses Bild – 16 Parteien außen und 5 Parteien innen – eher richtig als falsch ist. Ist die schreckliche Gewalt nun „Terrorismus“ von außen oder „Staatsterrorismus“ von innen gegen die, die Demokratie wollen? Beides, aber die Frage, wer für ein Pulverfass die größere Verantwortung trägt, Nitrat, Schwefel, Kohlenstoff oder die Explosion oder derjenige, der das Fass mit Pulver gefüllt hat (Frankreich), bringt uns nicht weiter. Wichtig ist, ob eine Lösung in Sicht ist.

Nicht durch Gewalt. Jeder Gewinner wird in der tief gespaltenen Region den intensiven Groll aller anderen auf sich ziehen. Nicht durch Sanktionen. Das ist, als wollte man jemanden dafür bestrafen, dass er Fieber hat, wenn Mikroben und Immunsystem in seinem Inneren miteinander kämpfen.
Daraus ergibt sich von selbst eine Schweizer Lösung. Ein föderales Syrien mit lokaler Autonomie, sogar bis hinab auf die Ebene der Dörfer. In diesem Syrien haben Sunniten, Schiiten und Kurden Beziehungen zu den Menschen ihrer eigenen Art über Grenzen hinweg. Dazu kommt internationale Friedenssicherung, auch zum Schutz der Minoritäten. Und Neutralität, welche einerseits ausländische Basen und Waffenströme, andererseits aber nicht Schlichtung für die Golanhöhen ausschließt, weil sonst Israels Mitgliedschaft in der UNO auf dem Spiel steht. Napoleon marschierte 1798-1806 in die Schweiz ein, aber er gab auf. Werden die gegenwärtigen Napoleons Netanyahu und Obama dasselbe tun?

Zwei weitere Katastrophen sind die Alternative: offener Krieg mit Saudi Arabien, Jordanien und Katar oder ein weiteres Libyen, in dem man dem Sieger grollt und wo keine dauerhafte Lösung in Sicht ist.

Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler
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Johan Galtung, Rektor der TRANSCEND-Friedens-Universität, schrieb „The Fall of the US Empire–And Then What?“ (www.transcend.org) (demnächst deutsch: Der Fall des US-Imperiums – und was dann?)


 
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